Fachperson im Interview zum Thema Herausforderungen bei der Dentalhygiene in Pflegeeinrichtungen

Marie-Laure Grandjean hat mit einem Forschungsteam die im häuslichen Umfeld oder in Alters-, Pflege- und Behindertenein¬richtungen erbrachte Zahnpflege unter die Lupe genommen. Wie wird sie von Dentalhygieniker:innen wahrgenommen? Wel¬che Hindernisse erkennen diese bei der Ausübung ihres Berufs ausserhalb einer Praxis? Im Interview erläutert Marie-Laure Grandjean, worauf es bei der häuslichen Zahnpflege ankommt und welche Hindernisse es dabei gibt.

Redaktion

Frau Grandjean, was ist unter «domiciliary dental care» (DDC) bzw. häuslicher Zahnpflege zu ver­stehen?

Unter häuslicher Zahnpflege (DDC) versteht man eine Behandlung, die in einer Umgebung ausser­halb einer «normalen» privaten Zahnarztpraxis durchgeführt wird, in der Regel am Wohnort der Patient:innen. Häusliche Zahnpflege kann älte­ren Menschen angeboten werden, die in einer Langzeitpflegeeinrichtung wohnen oder in der eigenen Wohnung und aufgrund einer Behinde­rung, einer Krankheit oder Gebrechlichkeit, einer Demenz oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sind, die Zahnarztpraxis aufzusuchen.

Sie haben mit einer qualitativen Studie unter­sucht, wie die häusliche Zahnpflege von Dentalhygieniker:innen wahrgenommen wird. Wie sind Sie vorgegangen?

Erstens musste ich Dentalhygieniker:innen rekru­tieren, die bereit waren, ihre Erfahrungen, Einstel­lungen, Meinungen, Behandlungen in häuslicher Zahnpflege mit älteren Menschen zu teilen. Um eine repräsentative Stichprobe zu gewährleisten, wurden sie nach ihrem Beschäftigungsstatus und nach ihrem Arbeitsort ausgewählt. Sie arbeiten in privaten Zahnarztpraxen, in Alters- und Pflegehei­men, in einem Spital, Teilzeit in Zahnarztpraxen und Pflegeheimen gleichzeitig oder sind im aka­demischen Bereich tätig.

Insgesamt nahmen 24 Dentalhygienikerinnen1 an den Interviews teil. Diese wurden nach einem Leitfaden geführt, es war jedoch wichtig, die Teil­nehmerinnen zu Wort kommen zu lassen, wenn sie weitere Informationen oder Kommentare mit­zuteilen hatten, und auf ihre Aussagen eingehen zu können, damit das Interview wie ein Gespräch verlaufen konnte.

Die thematische Analyse wurde nach dem Leitfa­den in sechs Phasen durchgeführt, von der wort­wörtlichen Transkription der Interviews über das Identifizieren, Verfeinern und Modifizieren von re­levanten Themen bis zum Verfassen des Berichts.

Welche Hindernisse in Bezug auf die häuslichen Zahnpflege wurden genannt?

In den Interviews wurden drei Hauptthemen als Hindernisse für die Bereitstellung von Mundpfle­ge in Pflegeheimen identifiziert: Infrastruktur, Fi­nanzierung und Zugänglichkeit.

Infrastruktur: In den Langzeitpflegeeinrichtungen oder Pflegeheimen mangelt es an der Infrastruk­tur. Es fehlen geeignete Räumlichkeiten für die Zahnpflege, es gibt keine separaten Räume, wo eine mobile Einheit aufgestellt oder das Material bis zum nächsten Besuch gelagert werden kann. So ist die Dentalhygienikerin oft gezwungen, ihre mobile Einheit in einem Badezimmer, einem Ab­stellraum, im Coiffeursalon oder im Podologie­zimmer aufzustellen. Für die Behandlung ist je­doch ein komfortabler Raum erforderlich, der für die Bewohnenden leicht zugänglich ist und über fliessendes Wasser für das Händewaschen oder die Reinigung von Prothesen verfügt. Dieser Man­gel an Infrastruktur führt zu einem erheblichen organisatorischen Aufwand für die Dentalhygieni­kerin, die bei jedem Besuch in einem Pflegeheim die mobile Einheit transportieren, auf- und wieder abbauen muss. Es ist nicht nur ein organisatori­scher Aufwand, sondern auch ein körperlicher, da die gesamte Ausrüstung bis zu 75 kg wiegen kann. Ausserdem braucht es dafür ein geeignetes Fahrzeug, um die Ausrüstung zu transportieren.

Finanzierung: Die finanzielle Entlöhnung wird als gering wahrgenommen verglichen damit, dass die Arbeit komplex, zeitaufwendig und risiko­reich ist. Die Dentalhygienikerinnen müssen ihre Ausrüstung kaufen: die mobile Einheit, die Inst­rumente und alle Verbrauchsmaterialien. Ausser­dem müssen sie die Sterilisationsdienste bezah­len. All diese Kosten wurden als unrentabel für eine Leistung empfunden, die viel Zeit und Mühe erfordert. Eine selbstständige Dentalhygienike­rin, die in Pflegeheimen arbeitet, ist gezwungen, in all dieses Material zu investieren. Dafür muss es einen minimalen Return on Investment geben, was nicht immer oder nur bedingt der Fall ist. Es wurde auch berichtet, dass es viel Arbeit im Hin­tergrund gibt, die nicht vergütet wird, etwa die Akquise von Pflegeheimen, die Fahrten zu den Patient:innen und der administrative Aufwand, der nicht vergütet wird.

Zugänglichkeit: Der Zugang zu Pflegeheimen und ihren Bewohnenden sowie die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Pflegeheimperso­nals wurden von den Dentalhygienikerinnen als Haupthindernisse genannt. Sie können nur mit einer Genehmigung der Heimleitung als Pflege­kraft in einer Institution tätig werden. Sie müssen sich mehrfach bewerben, um mit ihrer persönli­chen Ausrüstung tätig werden zu können, und sind mit zahlreichen Ablehnungen konfrontiert. Die genannten Gründe sind, dass die Heimlei­tungen nicht für die Mund- und Zahnprävention bei älteren Menschen sensibilisiert sind, das Be­handlungsspektrum von Dentalhygieniker:innen nicht kennen und vermuten, dass deren Besuch die Arbeitsbelastung des Pflegepersonals erhöht, obwohl dieses bereits sehr beschäftigt und unter­besetzt ist.

Auch Dentalhygienikerinnen müssen den Status der Selbstständigerwerbenden besitzen, diese Zulassungsfragen wurden ebenfalls als Hindernis angesehen, um Pflege in Langzeitpflegeeinrich­tungen leisten zu können.

War das Ergebnis für Sie eine Überraschung?

Mir war bewusst, dass die Arbeit in Pflegeheimen schwierige Schritte beinhaltet und zeitaufwen­dig ist. Manchmal müssen Patient:innen im Bett oder auf ihrem Rollstuhl behandelt werden oder Termine werden in letzter Minute abgesagt. Dies erfordert viel soziale Kompetenz, einen empathi­schen und wohlwollenden Ansatz und viel Geduld mit Menschen mit Behinderungen im Alter oder mit Menschen, die an Demenz leiden und be­sondere Verhaltensweisen zeigen können. Es ist eine Tätigkeit, die nicht mit einer Beschäftigung in einer Privatpraxis vergleichbar ist, wo komfor­table Strukturen bestehen und die Patient:innen selbstständig zu ihren Terminen erscheinen. Ab­gesehen von menschlichen Qualitäten erfordert die Arbeit in einem Pflegeheim Berufserfahrung und Kompetenzen wie selbstständiges Arbeiten, sich an verschiedene Strukturen anpassen zu können, reaktionsschnell zu handeln, Entschei­dungen zu treffen sowie Informationen an das Pflegepersonal und die Familie der Bewohnenden weiterzugeben.

Was mich in den Gesprächen mit den Dentalhy­gienikerinnen überrascht hat, ist die Energie, die sie aufwenden, um sich bei den Pflegeheimen zu bewerben, obwohl sie mit zahlreichen Ablehnun­gen und Nichtbeantwortungen ihrer Bewerbun­gen konfrontiert sind. Dass sie Spezialistinnen für Prävention sind und sich für die Mundgesund­heit der Bewohnenden einsetzen wollen – mit ih­rer eigenen Ausrüstung, ohne Investitionskosten für das Pflegeheim – wird zu wenig geschätzt. Zu­dem sparen die Bewohnenden dabei Transport­kosten, da sie sonst einen begleiteten Transport beantragen müssen oder sich durch Angehörige transportieren lassen müssen.

Ich finde es schade für die Bewohnenden, dass die Heimleitungen den Zugang und die Offenheit gegenüber Dentalhygieniker:innen nicht erleich­tern. Dies gilt umso mehr, als bekannt ist, dass eine schlechte Mundhygiene zu Mundproblemen führen kann, mit negativen Auswirkungen auf die Kaufunktion, die Ernährung, das Sprechen und das soziale Wohlbefinden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine schlechte Mundgesundheit die Lebensqualität beeinträchtigt. Ausserdem besteht ein erhöhtes Risiko, an Atemwegs- und/ oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder damit ver­bundenen Komplikationen zu erkranken.

Können Sie zum infrastrukturellen Defizit noch mehr sagen?

Pflegeheime sind nicht verpflichtet, eine feste zahnärztliche Einheit zu bauen oder einzurichten oder einen Raum für die Dentalhygiene-Arbeit zu reservieren. Dies hängt ab vom Goodwill und von der Sensibilität der Leitung und Führungskräf­te. Derzeit werden im Kanton Waadt politische Massnahmen diskutiert, die es älteren Menschen ermöglichen sollen, vor dem Eintritt in eine Ein­richtung eine vollständige zahnärztliche Unter­suchung durchführen zu lassen. Die Tatsache, dass eine vollständige orale Evaluation durch­geführt wird, ermöglicht es, den oralen Zustand zu kennen und personalisierte Pflegeprotokolle zu erstellen. Ausserdem soll das Pflegepersonal, das für die Bewohnenden zuständig ist, für die Mundhygiene sensibilisiert werden.

Was muss verbessert werden, damit die häusli­che Zahnpflege für die Dentalhygieniker:innen interessanter oder angenehmer wird?

Zweifellos die Zugänglichkeit und die Infrastruk­tur. Pflegeheimleitungen sollten sich bewusst werden, was Dentalhygieniker:innen tun und welchen Nutzen dies für die Patient:innen haben kann. Ausserdem sollten die Pflegeheime dafür sensibilisiert werden, eine feste Einheit zu instal­lieren oder zumindest einen Raum zur Verfügung zu stellen, in dem die mobilen Geräte unterge­bracht werden können. Dies würde den Zeitauf­wand für die Installation und die Logistik verrin­gern, der nicht unerheblich ist.

Dentalhygieniker:innen sind Spezialist:innen für Prävention und Sanierung und haben daher ihren Platz in Pflegeheimen verdient. Eine Reduktion des Aufwands würde mehr Dentalhygieniker:in­nen dazu ermutigen, den Schritt zu wagen.

Zudem könnte eine Anpassung der Ausbildung, indem praktische Übungen in Alters- und Pflege­heimen in den Lehrplan aufgenommen werden, den Horizont des Berufsbildes der Dentalhygieni­ker:innen erweitern (es gibt nicht nur die Privat­praxis) und das Interesse an der Arbeit mit dieser Bevölkerungsgruppe wecken. Dies würde auch dazu beitragen, das Bewusstsein für den Beruf beim medizinischen Personal zu schärfen und zu fördern.

Wie können Langzeitpflegeeinrichtungen neben Infrastruktur und Zugänglichkeit verbessern?

Auch die Ausbildung des Pflegepersonals ist wich­tig. Das Pflegepersonal kümmert sich jeden Tag um die Bewohnenden, und durch die Aufrechter­haltung des richtigen oder einigermassen richti­gen Zähneputzens kann ein Zustand beibehalten oder eine Verschlechterung verhindert werden. Heutzutage behalten viele ältere Menschen ihre Zähne, sie haben auch viele Restaurationen im Mund wie Implantate, Kronen etc. All dies erfor­dert Pflege, und das zuständige Pflegepersonal muss wissen, wie die verschiedenen Arten von Restaurationen zu pflegen sind. Dasselbe gilt für Voll- und Teilprothesen, die nachts herausgenom­men, gereinigt und an einem trockenen Ort aufbe­wahrt werden müssen. Ich bin mir bewusst, dass von den Pflegekräften viel verlangt wird und dass die Mundhygiene manchmal vernachlässigt wird, weil sie Teil der allgemeinen Körperpflege ist, die in den Heimen zeitlich festgelegt ist. Dennoch ist es von grösster Bedeutung ist, das Pflege­personal für die Mundhygiene, die zahnärztliche Grundpflege und die Ernährung zu sensibilisieren und das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Mund wirklich wichtig ist und dass ein vernach­lässigter Mundzustand auf lange Sicht Folgen haben kann.

 

Wie kann das Projekt «minimal einmal», einer Kooperation von Aktion Zahnfreundlich Schweiz und des Berufsverbands Swiss Dental Hygienists, zu einer  Verbesserung der Situation beitragen?

Die Tatsache, dass zwei grosse Strukturen zusam­menkommen, die Gewicht und Glaubwürdigkeit haben, ergibt eine starke Aussenwirkung. Dies gilt umso mehr, als es sich um Strukturen handelt, die über Ressourcen in Form von Werbung, Referenzen und Einfluss verfügen.

Die Schulung von Pflegepersonal und pflegen­den Angehörigen ist ein wichtiger Aspekt der Prä­vention bei älteren und gefährdeten Menschen. Es sind vor allem sie, die sich tagtäglich um die Bewohner:innen kümmern. Die Schulungen soll­ten kostenlos angeboten werden können, damit alle sie sich leisten können. Dies ist Teil eines wichtigen Ansatzes im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Es ermöglicht den Aufbau einer inter­professionellen Zusammenarbeit, von der beide Seiten profitieren, und ermöglicht den Austausch und die Entwicklung von Projekten, die auf ein gemeinsames Ziel zum Wohle der Patient:innen ausgerichtet sind.

 

Zur Person:

Marie-Laure Grandjean, Leitende Dentalhygienikerin an der Klinik für Allgemein-, Behinderten- und Seniorenzahnmedizin (ABS), Zentrum für Zahn­medizin, Universität Zürich

Mit ihrer Forschungsarbeit «Swiss dental hygienists’ attitudes and barriers in providing domiciliary care» hat Marie-Laure Grandjean im Rahmen der 32. Jahrestagung der Schweizeri­schen Gesellschaft für Alters- und Special-Care-Zahnmedizin SSGS an einem Posterwettbewerb teilgenommen und für ihren Beitrag den 2. Preis in der Kategorie «Research Poster» gewonnen. Herzliche Gratulation!



1 Da nur weibliche Berufspersonen an der qualitativen Studie teilgenommen haben, wird hier auf die Doppelnennung femininer und maskuliner Formen verzichtet. Dies gilt auch für die Berufsbezeichnung «Dentalhygienikerinnen», wenn damit die Studienteilnehmerinnen gemeint sind.

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